Die Matrix und andere virtuelle Realitäten



Jede menschliche Zivilisation war und ist im Grunde nichts weiter als eine Fiktion, eine Matrix, eine virtuelle Realität.


Zu Beginn jeder kulturellen Entwicklung, die am Anfang noch überwiegend von Höhlenmalereien, dem wilden Rhythmus von Trommeln und den Klängen archaischer Sprechgesänge sowie durch diverse Naturreligionen und ihren vielfältigen Rituale geprägt war, hat sich der frühzeitliche Mensch auf den entwicklungsgeschichtlichen Weg gemacht, eine virtuelle Realität nach der anderen zu erschaffen. Ein Weg, der die Gesamtheit menschlicher Evolution umfasst.

 

Klar, wir denken in diesem Zusammenhang wahrscheinlich nicht daran, dass es sich bei jeder von Menschen erschaffenen Kultur eigentlich um eine virtuelle Realität handelt. Allerdings ist wohl kaum eine andere Bezeichnung in der Lage, unsere komplexen, soziokulturellen Strukturen mit ihren vielfältigen Interpretationen, so passend in eine metaphorische Worthülse zu kleiden, wie es eben der Begriff der „Virtuellen Realität“ vermag.

 

Der renommierte Gehirnforscher und Psychologe „Jim Blascovich“ und sein Kollege „Jeremy Bailenson“, die sich in ihren Forschungen intensiv mit diesem Thema beschäftigen, beschreiben in einer ihrer Publikationen sinngemäß folgenden Sachverhalt:



„Höhlenmalerei ist wohl eine der ersten „Animationstechniken“, die im Betrachter eine Ahnung davon aufkeimen lässt, was virtuelles Reisen bedeutet. Du befindest dich in der Höhle, aber das Medium - der Informationsträger an der Felswand - die dynamisch gezeichneten und in Feuerfarben strahlenden Kunstwerke, stellen die weiten Ebenen sowie das Tierreich außerhalb der Höhle und somit eine Umgebung dar, die sich elementar von dem Standort in der Höhle unterscheidet und irgendwo in der entgegensetzten Richtung, abseits des Höhleneingangs, zu finden ist.

 

Einmal von Höhlenmalerei umgeben, die durch das Flackern der Fackeln an den Wänden zum Leben erwacht, stimuliert und verführt dieses urzeitliche „Medienspektakel“ die Phantasie förmlich dazu, mental in diese jenseits vom Aufenthaltsort liegende, andere Umgebung einzutauchen, so dass man eigentlich gar keine andere Wahl hat, als sich in der eigenen Vorstellung zu diesem imaginären Ort zu begeben.“ 


Dies war gewissermaßen die Geburtsstunde sowie der Auftakt der ersten bekannten und umfassenden Anwendung von „Virtual Reality“, allerdings ganz ohne die heute gebräuchlichen und technologisch weit fortschrittlicheren VR-Brillen.



Philosophen und Soziologen weisen diesbezüglich auf die Tatsache hin, dass Geschäftsmodelle, wie beispielsweise McDonald´s und Starbucks, im Grunde auch nichts anderes, als „Virtuelle Realitäten“ sind, die diese Unternehmen selbst erschaffen haben.

 

Dazu verwenden sie einheitliche Designrichtlinien, besitzen einen eigenen Verhaltenscodex, eigene Symbole, eine eigene Sprache und selbstverständlich auch eine eigene Firmenidentität samt einer dazugehörigen Unternehmensphilosophie.

 

In dem Augenblick, in dem du in einen Starbucks hineingehst, betrittst du ein künstliches Starbacks-Universum.



Diese „virtuellen“ Welten werden in der Fachsprache Hyperrealitäten genannt. Sie sind ein völlig selbstständiger Mikrokosmos, mit einer eigenen Mission, Vision und Botschaft.



Disneyland sowie der Times Square, sind der Inbegriff einer hedonistischen, konsumorientierten Hyperrealität.

 

Dabei können die Konzepte solcher über der Wirklichkeit stehenden Realitäten, wie durch „Copy & Paste“ beliebig geklont und in jede vereinheitlichte, kommerzielle Monokultur dieser Welt, mühelos hineinkopiert werden.



Sie sind die Meilensteine des globalen kapitalistischen Projekts: Nahezu identische Niederlassungen, mit identischen Produkten, an möglichst vielen Standorten, möglichst überall verteilt auf der Welt.

 

Wo aber liegt der Ursprung dieser modernen Hyperrealitäten?

Was ist in der Zeitspanne zwischen dem Beginn der Höhlenmalerei und dem Auftauchen der vielen bekannten, weltumspannenden Franchise-Unternehmen, passiert?

 

Ich persönlich neige dazu, den Beginn dieser Entwicklung, mit der Mystifizierung von Tempelanlagen und ähnlichen Orten der Anbetung sowie den damit verbundenen Glaubenssystemen, in enge Verbindung zu bringen.



Der Ursprung komplexerer virtueller Realitäten, liegt meiner Ansicht nach somit in der Entstehung von Kirchen, Tempeln und spirituell bedeutsamen Plätzen, die als das Herzstück aller Kulturen auf ihrer Reise in die Moderne, angesehen werden können.



Was bleibt von einer Kirche übrig, wenn wir sie von ihren religiösen Insignien befreien?

 

Lediglich ein leerstehendes Gebäude. Sobald wir aber die entsprechenden sakralen Intarsien, in und um das Gebäude hinzufügen, entstehen Effekte, die sich gegenseitig verstärken und den Gesamteindruck ganz bewusst vervielfachen.

 

In einer Kirche findet man im Allgemeinen einen Altar, heilige Schriften, Requisiten, Reliquien, Schreine, Rituale, Zeremonien, Symbole, Statuen, Heiligenbilder, sakrale Architektur, usw. All diese Dinge sind bedeutungsvoll und repräsentieren die spirituelle Ideologie nach außen.



Durch die verwendeten Intarsien und Insignien erhalten Religionen erst ihr physisches Gerüst und ihre Struktur. In Summe erzeugen diese Objekte in ihrem Zusammenspiel, die Luftspiegelung einer ganz bestimmten, spirituellen Wahrnehmung und Weltsicht.

 

Von außen betrachtet mag eine Kirche lediglich ein mehr oder weniger imposantes Gebäude sein. Innen allerdings, wird sie nicht nur zu einer virtuellen Realität, sondern vielmehr zum Zentrum ihres religiösen Glaubens sowie zum wichtigsten Versammlungspunkt ihrer Anhänger.

 

Tatsächlich können wir „eine Kirche“ gar nicht betreten, sondern vielmehr nur in die Idee, die durch diese Kirche symbolisiert wird, hineinfallen.

 

Im Zusammenspiel mit ihrem hyperrealen Konzept, entfaltet sie In ihrem Innern einen geradezu überirdischen Effekt, dessen Wirkung durch den Aufbau, die Struktur und das Design der Kirche, ganz bewusst so beabsichtigt ist.

 

Eine Kirche zu betreten ist also gleichbedeutend damit, in einen Gedanken, in eine Idee einzutauchen, die lediglich wie eine Kirche geformt ist.



In diesem Sinne sind Kirchengebäude nur eine frühere Version der heutigen VR-Brille.

 

Sobald wir uns innerhalb der Kirche befinden und durch sie nach außen blicken, wird die äußere Realität wie durch Magie zur Religion.

 

Die ursprüngliche Verkörperung dieser „kirchengebäudeartigen VR-Brille“, ist im Prinzip eigentlich nichts anderes, als das der archaischen, bebilderten und im Fackellicht schimmernden Höhlenmalereien unserer Urahnen.

 

Ganz ähnlich verhält es sich auch mit unserer Sprache.



Wenn wir etwas lesen und die Wörter in unserem Gehirn dekodiert und anschließend mit ihrem entsprechenden Sinn verknüpft werden, erzeugen wir vor unseren inneren Augen, die damit korrespondierenden Bilder.

 

Diese Vorführung findet sozusagen auf dem Holodeck unseres Geistes statt, während diese selbst erzeugte, virtuelle Realität, durch das Rezitieren unserer inneren Stimme, noch bekräftigt wird.



Des Weiteren umfasst der Begriff der virtuellen Realität nicht nur das Konzept der Sprache, einer bestimmten Kultur, oder Ideologie, sondern schließt unsere äußerst unterschiedlichen Denk- und Glaubensweisen mit ein.

 

Jenseits aller Kritik und Bewertungsmaßstäbe sind sämtliche Ideologien, wie beispielsweise Sozialismus, Kapitalismus, Materialismus, etc., demnach genauso virtuelle Realitäten, wie die totalitäre Weltsicht Nordkoreas, oder die Glaubenssätze der katholischen- bzw. irgendeiner anderen Kirche.



Sie mögen oberflächlich betrachtet unterschiedlichen Regeln gehorchen, sobald es aber um den Anspruch auf eine allgemeingültigen Wahrheit geht, begehren die meisten Systeme dieses Alleinstellungsmerkmal, wie selbstverständlich ganz für sich selbst.



Dabei sind diese Konzepte nichts weiter als seifenblasenartige Gebilde einer vergänglichen Sichtweise, die die reine, pure, ungeschminkte Erfahrung und Wahrnehmung der tatsächlichen Welt, lediglich für ihre jeweiligen Zwecke verdreht, um dadurch die eigene subjektive Weltanschauung, zur einzig wahren und somit zu einer allgemeingültigen Realität zu erheben.

 

Schauen wir uns in diesem Zusammenhang dazu doch einmal das Konzept einer „Nation“ an.



Eine Nation ist an und für sich ein erdachtes Gebilde, das aus Begriffsgerüsten und Worthülsen geformt ist. Die ausführende und gesetzgebende Gewalt selbst, sowie die Gesetze, Anweisungen, Beschlüsse, Erlasse, Bußgeldkataloge, Wahlzyklen, Erlaubtes und Verbotenes, sind Subroutinen einer nationalen Programmierung - sozusagen ihr kultureller Verhaltenscodex.



Sie repräsentieren, welche Grundsätze in ihrem fiktiven Biotop gelten und bestimmen, was richtig und erlaubt ist und was nicht.

 

Eine Nationalflagge ist das „Favicon“, das Banner, dieser selbst erklärten, soziokulturellen und dennoch virtuellen Entität. Dabei entstellen und verwüsten diese eingebildeten Grenzlinien, das ursprüngliche Angesicht unseres Planeten, wie entartete Geschwüre, die niemand ernsthaft braucht.



Dort wo eine Nation aufhört und eine andere beginnt, markieren diese surrealen Barrieren dann den Unterschied, zwischen den voneinander abweichenden, künstlichen Begriffskonstruktionen, Verhaltensregeln und Subroutinen, ihrer jeweils benachbarten, fiktiven Ökosysteme.

 

Könige, Minister, Politiker, Beamte, Polizisten, Rechtsanwälte sowie alle anderen „offiziellen“ Erfüllungsgehilfen und Lakaien ihrer nationalen Maschinerie, repräsentieren hierbei die Klasse der Bewahrer und Vollstrecker dieser imaginären Luftnummern.

 

Sie sind die Herrscher aller vergangenen, existierenden und noch kommenden Kulturen unserer einmaligen Welt, deren Fundament auf nichts anderem gebaut ist, als auf einer vergänglichen und virtuellen Simulation.



Waffen, Abzeichen, Uniformen, Gewänder, Staatstrachten, Juristensprache, Fachausdrücke sowie die damit verbundenen Verhaltensregeln und Rituale, sind die Fetische eines fiktiven Rollenspiels, das auf den nationalen Showbühnen unserer Welt aufgeführt wird und die Illusion einer scheinbar allgemeingültigen Realität verstärken.

 

Sie sollen uns vorgaukeln, dass das Konzept eines Nationalstaates samt seiner Bürokratie, eine in sich selbst begründete, naturgegebene und deshalb objektive Legitimierbarkeit und Echtheit besitzt.

 

Aus diesem Grund sind alle Nationen, samt ihrer dazugehörigen Kulturen, nicht viel mehr als sich ständig nur selbst bestätigende, relative und virtuelle Welten. Keine davon realer oder wahrer, als die andere.

 

Demzufolge ist der Vergleich zwischen Kultur X und Y sowie die Beschäftigung mit der Frage, welche die bessere virtuelle Realität sei, einfach nur sinnlose Zeitvergeudung und reine Taschenspielerei.



Viel spannender und interessanter wäre hingegen eine realisierbare Antwort sowie die sich daraus ergebende Erkenntnis, auf die grundlegenden Frage zu finden, unter welchen Bedingungen die Einzigartigkeit, das Wohlergehen, die Freiheit sowie die einmalige Existenz aller Lebewesen sowie unserer Umwelt, auf Dauer geachtet, respektiert, bewahrt und garantiert werden kann, so dass die Menschheit, aber auch unser Ökosystem, als ein zusammengehöriger Organismus, wachsen, gedeihen und erblühen kann.

 

Der nächste logische Schritt wäre demnach, sämtliche nationalen VR-Brillen kollektiv abzulegen und das daraus resultierende Wissen gemeinsam, konsequent und "ver-Antwort -ungsvoll", über alle real existierenden, aber auch virtuellen Grenzzäune und Tellerränder hinweg, anzuwenden und dadurch eine neue, schrankenlose und lebenswerte Realität, zu erschaffen.





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