Im Tunnel



Es ist wieder einmal Mitte der Woche. Wie so oft fahre ich mit dem ICE nach Köln. Dort arbeite ich seit mehreren Jahren in einem IT-Projekt, direkt am Heimatstandort meines Kunden, an der sogenannten „Deutzer Freiheit“.


An der Station „Köln-Messe-Deutz“ steige ich aus und laufe vom oberen Bahnsteig die Treppen nach unten. Dann geht es über einen röhrenförmigen, tunnelartigen Gang (der mich entfernt an das Innere eines klaustrophobischen Ameisenbaus erinnert), durch eine Unterführung, die zum Straßenzugang und somit auf die andere Seite des Bahnhofs, führt.

 

Hier wimmelt es morgens nur so vor Menschen und wuseliger Betriebsamkeit. Jeder will schnell irgendwohin und möchte beim Bäcker oder McDonalds, quasi im Vorbeilaufen, noch etwas zum Frühstück ergattern.

 

Manche der Reisenden müssen in eine ganz andere Richtung. Für sie ist der aktuelle Aufenthalt hier vermutlich nur ein lästiger Zwischenstopp. Eilig huschen sie in eine der zahlreichen Abzweigungen, die sie zu einem Gleis führt, an dem sie ihre Fahrt in einem anderen Zug fortsetzen werden.

 

Jeder läuft ganz offenbar einem ganz bestimmten Ziel hinterher und achtet dabei höchstens beiläufig auf seine unmittelbare Umgebung.

 

Deshalb sehen nur die Wenigsten den Obdachlosen, der in einer Ecke liegt und mit seinen wenigen Habseligkeiten Schutz vor der beißenden Morgenkälte sucht. Wenn er von jemandem registriert wird, dann nur flüchtig und mit einem für Nanosekunden auftauchenden Gefühl des Bedauerns, das sich nicht selten aus der dahinterliegenden Frage speist, wie es wohl wäre, wenn der Beobachter selbst, in den abgetretenen Schuhen dieser verlorenen Seele stecken würde.



Wie fühlt es sich an, wenn man so gut wie alles verloren hat und auf der Straße um sein Überleben kämpft?

 

Zugegeben, ein aufwühlender und beängstigender Gedanke. Wahrscheinlich zu irritierend und verstörend, um sich intensiver mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen zu wollen? 

 

Vielleicht auch deswegen, weil wir in solchen Augenblicken instinktiv spüren, dass der Grat zwischen perspektivloser Hoffnungslosigkeit und sorglosem Überfluss, manchmal sehr schmal ist, zumal uns niemand zu 100% garantieren kann, dass wir auch morgen noch im sicheren Hafen sowie in der relativen Sorglosigkeit unseres privaten „La-La-Lands“, aufwachen werden.

 

Eines ist dabei verständlicherweise glasklar: wir möchten auf keinen Fall so enden.

 

Das dokumentieren die vielen beschämten Blicke, die sich rasch von dem unglücklichen Symbol des vor ihnen liegenden, menschlichen Elends sowie dem damit verbundenen, gesellschaftlichen Bankrotts abwenden, um nicht mit dessen trostloser Realität konfrontiert zu werden.

 

Ich stecke dem dösenden Mann 5 Euro unter seinen Schlafsack. Eine bescheidene und dennoch hilflose Geste, die mich weder zu einem besseren Menschen macht, noch das miserable Gefühl in meinem Magen vertreibt. Die existentielle Not meines Protagonisten wird sie nicht einmal ansatzweise lindern können. Aber sie öffnet und schärft in diesem Moment mein Bewusstsein und das ist gut so.

 

In solchen Augenblicken frage ich mich: was ist mit uns geschehen?

Was ist mit den Menschen los?

Weshalb fällt es uns so leicht wegzuschauen und so schwer in der Gegenwart präsent zu sein und das wahrzunehmen was tatsächlich ist?

 

Ich möchte aufrütteln und laut schreien: wacht auf aus diesem massenhypnotischen Alptraum! Doch der Schrei ertönt nur in meiner Vorstellung. Stattdessen beobachte ich, wie Passanten, ferngesteuerten Robotern gleich, an mir vorbeihuschen und dabei völlig in ihrem subjektiven, begrenzten und röhrenförmigen Tunnel aus Ignoranz, Selbstvergessenheit und Bewusstlosigkeit abtauchen.

 

Ihre Aufmerksamkeit ist scheinbar auf alles Mögliche gerichtet. Auf das Werbebanner nebenan, auf die Auslage im Schaufenster, auf den Zugfahrplan, oder auf das Display ihres Smartphones. Doch das was sie darüber hinaus umgibt, sehen sie nicht wirklich (- oder wollen es einfach nicht sehen).



Es ist fast so, als ob sie sich auf einer anderen Wirklichkeitsebene befinden. In einem inszenierten und künstlichen Paralleluniversum, einer virtuellen Realität. Einer gigantischen Blase, in der der einzige Fokus darin besteht, alles Gegenwärtige, ja das Leben selbst, auszublenden und sich auf die nächsten egozentrischen Ziele, Vorhaben, Projekte, Pläne, Aufgaben und Ablenkungen, zu stürzen. Oder einfach auf das nächste fragwürdige Vergnügen, auch wenn es sich dabei nur um einen kurzfristigen Dopamin-Kick handelt, der grotesker Weise meist durch den Konsum von etwas völlig Sinn- und Nutzlosen, Trivialen und Vergänglichen, ausgelöst wird. Von etwas, dass eigentlich niemand für sein Wohlgefühl, geschweige denn zum Überleben, ernsthaft braucht.

 

Längst haben wir den Kontakt zu uns selbst verloren. Unser soziokulturelles Umfeld, ein ausschließlich auf Leistung getrimmtes Bildungs- und Arbeitssystem, die Werbung, die mehr oder weniger sozialen Medien, samt dem vorherrschenden Lifestyle sowie dem damit einhergehenden Mainstream, geben vor, was gerade angesagt und hip ist, im Fokus steht und demnach wichtig ist. Doch das, was wir wirklich wollen, unsere Träume, Phantasie, Kreativität und unsere authentischen Wünsche, sind längst aus unserem unmittelbaren Blickfeld verschwunden.

 

Man hat sie uns von Kindheit an systematisch geraubt und durch Surrogate und künstliche Ersatzbefriedigungen ausgetauscht. Wir haben es nur nie gemerkt, weil unsere Aufmerksamkeit, wie bei einem billigen Taschenspielertrick, stets auf das Unwesentliche (ab)gelenkt wurde.



Die chronische Pandemie, die daraus entstanden ist, könnte man zwar falsch, dafür aber ziemlich treffend, auch als gesellschaftliches ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom), oder „Bewusstseins-Tourette“, bezeichnen.

 

In ihrer schlimmsten Ausprägung führt diese Krankheit zu spontaner Lieblosigkeit, Neid, Missgunst, Hass, Frustration und Aggression, Gleichgültigkeit, Angst und letztlich blutigen und kriegerischen Auseinandersetzungen sowie einer systematischen Zerstörung und Ausbeutung der eigenen Lebensgrundlage.

 

Der Mangel an Aufmerksamkeit und bewusster Gegenwärtigkeit, führt zu einer pathologischen Verlagerung des Erlebens in die virtuelle Vergangenheit und/oder in die Zukunft. Dadurch zieht das was gerade ist, unbemerkt an uns vorbei.

 

Während das wahre und unmittelbare Leben auf diese Weise verrinnt, wird das, was wir dabei fühlen und erleben, hauptsächlich durch vergangene Sorgen, Ängste, Nöte, Erfahrungen und Wünsche überlagert, geprägt und bestimmt, oder aber durch erdachte, zukünftige Ereignisse, deren baldiges Eintreten wir sehnlichst erhoffen.

 

Doch beide Realitätsebenen sind nur Projektionen. Halluzination unseres konditionierten Verstandes. Eine Fata Morgana unserer Gewohnheiten. Dennoch basieren unsere Gedanken, Empfindungen, Äußerungen und Handlungen, genau auf diesen Illusionen.

 

In den seltensten Fällen beziehen sie sich hingegen auf das Hier und Jetzt sowie auf das reine Erleben unseres gegenwärtigen So-Seins, sondern vielmehr auf vergangene oder zukünftige Erfahrungen, Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen, Bedürfnisse und Ziele (- die oft genug nicht einmal unsere eigenen sind).

 

Wenn wir dann doch einmal in der Gegenwart ankommen, dann nur um sie mit vergangenen und/oder mit zukünftigen Erlebnissen und Erfahrungen zu vergleichen. Da dieser Vergleich nicht immer positiv ausfällt, flüchten wir wieder in die Vergangenheit, oder in die Erwartung und Vorstellung von dem, was vielleicht einmal sein könnte, anstatt wahrzunehmen und zu genießen, welches unfassbare Wunder der gegenwärtige Moment für uns bereithält.

 

Alleine die Tatsache, dass es dich gibt und du jetzt beim Lesen dieser Zeilen diesen besonderen Augenblick mir teilen kannst, grenzt an ein unerklärliches, einmaliges Wunder.

 

Warum feierst du die einzigartige Kostbarkeit dieses Wunders nicht?

 

Warum bist du nicht dankbar dafür?

 

Hast du vergessen, wie es sich als Kind angefühlt hat, barfuß über die Wiese zu laufen und mit unbändiger Lebenslust unbeschwert herumzutollen, ohne dabei an Gestern oder Morgen zu denken?

 

Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie es sich anfühlt die Wildblumen auf der Wiese blühen zu sehen, ihre Farbenpracht zu bewundern, während die milde Frühlingsbrise ihren süßen Geruch zu dir trägt und deine Nase sanft umspielt?



Hast du vergessen wie es ist, über all das zu staunen und sich darüber zu freuen und einfach nur (dankbar und glücklich) zu sein?

 

Wenn du das alles vergessen und verlernt hast, dann mach dir bitte keine Vorwürfe. Es ist definitiv nicht deine Schuld! Andere wollten (und wollen immer noch), dass du all die Eigenschaften, die dich zu einem wahren, lebendigen, kreativen, empathischen, integren, freien, selbstbestimmten und solidarischen Menschen machen, vergisst, damit du dich einem automatenhaften, leistungsbezogenen und seelenlosen System unterordnen und möglichst reibungslos funktionieren kannst.

 

Doch die Fähigkeit dazu schlummert noch immer in dir, du musst dich nur wieder an sie erinnern und sie bewusst aktivieren. Stück für Stück.

 

Komm, wach auf aus diesem düsteren Traum!

Vertraue mir. Fange wieder an zu leben und zu fühlen.

Jetzt! Wenn nicht jetzt, wann dann?

 

Sei aufmerksam und gegenwärtig.

Beginne wieder langsam damit, das Leben und die scheinbaren Kleinigkeiten um dich herum voller Freude, bewusst, wahr-und dankbar anzunehmen.

 

Nimm meine Hand und lass dich zum Ausgang führen. Schau, da vorne wartet er auf uns. Gleich neben der Gleichgültigkeitsschwelle. Ich kann bereits das Licht am Ende des Tunnels sehen.

 

Siehst du es auch?


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